Überlegungen über Plurilingualität / Plurikulturalität

Überlegungen über Plurilingualität / Plurikulturalität

Gedanken zu Mehrsprachigkeit und Herkunftssprache ~Wie ich mir herkunftssprachlichen Unterricht vorstelle ~

Kayoko Shimizu-Pieri

„Hidamari“ ist eine Schule für herkunftssprachlichen Unterricht, die ich 2012 gegründet habe – nicht als gemeinnützigen Verein, sondern als Unternehmen. Angefangen habe ich mit einer kleinen Gruppe von fünf Kindern. Heute sind daraus sechs Klassen von insgesamt 43 Schüler*innen mit japanischen Wurzeln geworden, die an dieser Schule japanische Sprache und Kultur kennenlernen.

Die Idee zu „Hidamari“ kam mir vor 20 Jahren, als meine beiden Töchter hier in Deutschland eine japanische Ergänzungsschule (Hoshūkō) besuchten. Während ich sie als Mutter beim Japanischlernen begleitete, kamen mir nach und nach Zweifel bezüglich der Lerninhalte und Lehrmethoden dieser Schule.

Die Schule war auf Kinder von in Deutschland ansässigen Japanern ausgerichtet, die planten, wieder nach Japan zurückzukehren und hatte zum Ziel, dass diese Kinder sofort nach ihrer Rückkehr am japanischen Schulunterricht teilnehmen konnten. Somit entsprachen die Lerninhalte in den höheren Jahrgängen nicht mehr den Bedürfnissen von Kindern, deren Eltern planten, weiterhin in Deutschland zu bleiben.

Das brachte mich auf die Idee, eine eigene japanische Schule zu gründen, deren Lerninhalte und Lehrmethoden nicht japanorientiert sind wie an einer japanischen Ergänzungsschule in Deutschland, sondern sich stattdessen an Kinder richten, die in Deutschland leben, aber auch Wurzeln in Japan haben. Somit gründete ich „Hidamari“.

 

Die „Hidamari“-Unterrichtsprinzipien

1. Eine Spracherziehung, die sowohl die sprachliche als auch die geistig-seelische Entwicklung des Kindes berücksichtigt

Bei Kindern mit binationalen Eltern wird die sprachliche Entwicklung innerhalb eines plurilingualen und multikulturellen Rahmens verstanden, und es bedarf einer Förderung, die die Beziehung zwischen kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten sowie das Formen einer Identität im Blickfeld hat. Anders ausgedrückt, es bedarf einer Spracherziehung, die sowohl die sprachliche, als auch die geistig-seelische Entwicklung des Kindes berücksichtigt.

2. Ziel ist es, kompetente Weltbürger*innen einer internationalen Gesellschaft auszubilden

Kompetente Weltbürger*innen sind nicht einfach Menschen, die viele Sprachen sprechen, sondern Menschen, die unabhängig denken und eigenständig handeln können. Dafür ist es wichtig, dass sie vielfältige Wertvorstellungen anerkennen und ein internationales Empfinden entwickeln. „Die Fähigkeit eines Kindes, zu denken, wird dadurch gefördert, dass man seine erste Sprache (seine stärkste Sprache) gründlich ausbaut. Darauf aufbauend arbeiten wir dann an der Fähigkeit, das Gedachte auf Japanisch auszudrücken. Ausgerüstet mit guten Fähigkeiten in der Landessprache sowie im Japanischen lernen die Schüler*innen, unabhängig zu denken und zu handeln und werden zu Menschen, die als Brücke zwischen Deutschland und Japan, und darüber hinaus zwischen Japan und der Welt fungieren können. Dies streben wir mit unserer Schulausbildung an.

3. Eine Erziehung, die Menschen zu Menschen macht

„Hidamari“ ist nicht einfach eine Sprachschule, sondern ein Ort, an dem wir Schüler*innen beibringen wollen, was als Mensch wichtig ist. Dazu gehören Dankbarkeit und Respekt, Etikette und gute Umgangsformen, sowie Rücksicht anderen Menschen gegenüber. Wir wollen unseren Schüler*innen beibringen, den Blick darauf zu richten, was wichtig für die Zukunft der Erde ist. Deshalb sind Ernährungserziehung, Umwelterziehung und Friedenserziehung zentrale Pfeiler unseres Unterrichts und unserer Aktivitäten. Wir wollen, dass unsere Schüler*innen nicht nur Wissen aus dem Unterricht mitnehmen, sondern dass sie durch Erfahrung und Austausch in Geist und Körper als Menschen wachsen, selbstbewusst ihre Fähigkeiten, ihre Möglichkeiten und ihren Horizont erweitern und mit vielen Menschen in der Gesellschaft zusammenleben können.

 

Handlungsgrundsätze

★ Ein Umfeld schaffen, in dem Schüler*innen mit Freude lernen können

Wir bemühen uns, Themen zu wählen, an denen die Kinder Interesse haben und so ein Umfeld zu schaffen, in dem sie nicht denken „Ich muss Japanisch lernen“, sondern „Ich will Japanisch lernen!“

Um Kanji mit Spaß lernen zu können, bieten wir beispielsweise speziellen Kanjiunterricht an, in dem die Ninjapuppe Kanjimaru Ratespiele und Ähnliches mit den Schüler*innen spielt oder führen bei unserer Weihnachtsfeier mit jeder Klasse ein eigenes Theaterstück auf. Wir machen Bühnenstücke aus Lehrbuchtexten, entwickeln Sketche zu Entstehungsgeschichte oder Verwendung von Sprichwörtern und Redensarten, die wir im Unterricht gelernt haben, schreiben eigene Drehbücher basierend auf der klassischen japanischen Erzählung „Die Geschichte des Bambusschneiders“ oder führen die „Kopfkissenhefte der Sei Shonagon“ als Schwerttanz auf. So versuchen wir, Schüler*innen dabei zu helfen, mit allen fünf Sinnen einen tieferen Einblick in die Gefühle der darin auftauchenden Figuren zu gewinnen und die gelernten Wörter und Redensarten durch eigenen Ausdruck zu festigen.

★Kleine Klassen von maximal 10 Schüler*innen, bei denen die Lernenden im Mittelpunkt stehen

Wir wollen nicht durch Frontalunterricht Wissen in unsere Schüler*innen hineinstopfen, sondern so weit wie möglich aktives Lernen fördern, bei dem die Lernenden im Mittelpunkt stehen. Wir wollen, dass sie nicht nur Gelerntes beherrschen, sondern dass sie lernen, Situationen selbst angemessen zu beurteilen und kreativ mitzugestalten. Konkret wird dies umgesetzt durch Aktivitäten wie eigenes Recherchieren und Vortragen der Ergebnisse, Diskussionen, Redewettbewerbe und PPT-Präsentationen. Ebenso veranstalten wir mit unseren Schüler*innen Dream-Map-Workshops, in denen sie ihre Zukunftsträume ausarbeiten und vortragen.

★ Lerninhalte, die die Stärken von Herkunftssprachler*innen zur Geltung bringen

In den höheren Jahrgängen unterrichten wir mit besonderem Augenmerk auf die Vermittlung von Japanisch als Herkunftssprache möglichst klare und komprimierte Lerninhalte, die möglichst effizient von den Schüler*innen aufgenommen werden können. Wir bewegen uns inhaltlich auf höherem Niveau, wenn wir beispielsweise Schüler*innen auf Japanisch Vorträge über Themen halten lassen, die sie in ihrer deutschen Schule durchgenommen haben. Oder wir lesen mit ihnen die japanische Geschichte „Lauf, Melos, lauf“ und Schillers „Bürgschaft“, auf der sie beruht, im Original und lassen sie beide Werke vergleichen und darüber nachdenken, welches Leitmotiv sich herauskristallisiert. Durch aktives Nutzen landessprachlicher Schulbücher und Übersetzen deutscher Lieder, Gedichte, etc. im Unterricht, geben wir den Schüler*innen Gelegenheit, auf ihre guten deutschen Sprachfähigkeiten zurückzugreifen und ihre Stärken zu zeigen. Dadurch steigt auch ihre Motivation, Japanisch zu lernen.

★ Umfassende Lerninhalte aus vielen verschiedenen Fächern

Wir unterrichten naturwissenschaftliche Inhalte, indem wir draußen Pflanzen und Insekten beobachten, dichten auf Spaziergängen Haiku unter Verwendung von Jahreszeitenwörtern und lassen durch Spiele und Wettkämpfe auch Sportunterricht einfließen. Wir integrieren Lerninhalte in spielerische Wettkämpfe und treten mit klassenübergreifenden Teams gegeneinander an. Im Bereich Sozialkunde sprechen wir mit den Schüler*innen über Länder, in die sie reisen möchten, lassen sie etwas über die Geographie, Geschichte und Kultur unterschiedlicher japanischer Präfekturen recherchieren und vorstellen, und veranstalten ein kulinarisches Sommerfest unter der Überschrift „Fest der regionalen Spezialitäten Japans“, bei dem sie selbige an Ständen feilbieten oder sich Buden mit Spielen überlegen, in denen bestimmte regionale Spezialitäten eine Rolle spielen. Dadurch können die Schüler*innen Spaß an Veranstaltungen haben und dabei vieles lernen. In Haushaltskunde lernen die Schüler*innen nicht nur Kochen, sondern auch Begriffe wie „kome wo togu“ (Reis waschen), „yasai wo kizamu“ (Gemüse schneiden), „kiji wo koneru“ (Teig kneten) oder „kiji wo nekasu“ (Teig ruhen lassen), die man nur beim Kochen in dieser Form verwendet, sowie die richtigen Namen von Küchengeräten.

 

★ Erfahrung und Austausch durch Veranstaltungen

Bei „Hidamari“ gibt es über das Jahr verteilt viele Veranstaltungen und Lernaktivitäten, bei denen Schüler*innen japanische Kultur erleben und erfahren können.

Feste Veranstaltungen in unserem Jahreskalender sind der Freiluftunterricht im Mai, das Sommerfest im Juni/Juli, die Weihnachtsfeier im Dezember, die Neujahrsfeier und die erste Kalligraphie zum Neuen Jahr im Januar und die Präsentation der Lerninhalte im März (jeder trägt einzeln etwas vor). Zusätzlich bieten wir jedes Jahr vielfältige Möglichkeiten an, japanische Kultur zu erleben. Bisher waren darunter zum Beispiel Workshops in Kendo, Aikido, Kyudo, japanischem Tanz, Schwerttanz, Teezeremonie, Bildpostkarten malen und verfassen, Koto, Wadaiko, Rakugo, und Reis zu Mochi stampfen. Für Wadaiko und Rakugo hatten wir Profis aus Japan zu Gast, die unseren Schüler*innen etwas über ihre Kunst erzählt und Workshops für sie gegeben haben. Außerdem haben wir Lernreisen nach Japan, japanisch-deutsche Austausch-Camps und andere freiwillige Events organisiert.

 

Dass auf 36 Unterrichtsstunden im Jahr so viele Veranstaltungen kommen, wirkt sich nicht nur auf den Fortschritt der Schüler*innen im regulären Unterricht aus, es ist auch eine große Herausforderung für die Lehrkräfte. Dennoch – Veranstaltungen haben einen Vorteil, der über das Sprachenlernen hinausgeht: Sie ermöglichen Erfahrung und Austausch. Durch neue Erfahrungen entstehen neues Wissen, neue Fähigkeiten, Denkweisen, Auswahlmöglichkeiten, Gelegenheiten und Welten. Es geht nicht so sehr darum, was man bei einer Veranstaltung macht, sondern es ist der Prozess auf dem Weg dahin, der zählt. Die Gespräche und die Zusammenarbeit bei der Planung im Unterricht, die darauf hinzielen, etwas Gemeinsames zu schaffen, führen zu Freundschaften und Zusammenhalt und stärken den Klassenverband. Außerdem entstehen durch den Austausch mit Kindern aus anderen Klassen und Eltern neue Denkweisen und Wertvorstellungen, Kinder aus höheren Jahrgängen bringen Kindern aus niedrigeren Jahrgängen etwas bei, und so wirkt sich das Ganze auch positiv auf ihre japanischen Sprachfähigkeiten aus. Wir sind überzeugt davon, dass die Freude an den Veranstaltungen unsere Schule für die Schüler*innen attraktiver macht und ihren Appetit auf das Lernen steigert. Ein weiterer Vorteil ist, dass auch Familienmitglieder nicht japanischer Abstammung bei der Organisation der Veranstaltungen mithelfen und an ihnen teilnehmen, wodurch sie ein besseres Verständnis für die herkunftssprachliche Erziehung ihrer Kinder entwickeln können.

Kinder orientieren sich an ihren Eltern und anderen Erwachsenen. Wenn sie, anstatt gesagt zu kriegen: „Streng dich an und lern Japanisch!“, sehen, wie ihre Eltern und Lehrer*innen zusammen Spaß haben und intensiv an etwas arbeiten, springt der Funke ganz natürlich auf sie über.

 

Meine Gedanken zum Thema Herkunftssprache

Meiner persönlichen Ansicht nach fängt das Thema Herkunftssprache mit der Entscheidung eines Elternteils an, dass das Kind die eigene Sprache lernen soll. Deshalb denke ich, bei der Herkunftssprache sind die Eltern die Hauptverantwortlichen. Ein Kind wird kein hohes japanisches Sprachniveau erreichen, wenn man es lediglich einmal die Woche zum japanischen Sprachunterricht schickt. Das Mindeste ist, dass der japanische Elternteil zu Hause durchgehend Japanisch mit dem Kind spricht, ideal ist es, wenn das Kind zusätzlich Japanisch als Herkunftssprache an einer Schule lernt und man den Erwerb besserer Lese- und Schreibfähigkeiten anstrebt. Das Niveau, das Eltern für ihre Kinder anstreben, variiert jedoch von Familie zu Familie. Während manche wollen, dass ihr Kind so gut Japanisch kann, als hätte es einen japanischen Schulabschluss absolviert, reicht es anderen aus, wenn sie sich mit ihren japanischen Großeltern unterhalten können. Was meiner Meinung nach wichtig ist, ist, dass man als Schule die eigenen Prinzipien und Grundsätze, sowie die angestrebten Lernziele für die Schüler*innen klar darlegt.

Meiner Meinung nach kann man keiner herkunftssprachlichen Schule vorschreiben, wie sie zu sein hat. Ich hoffe vielmehr, dass zukünftig viele herkunftssprachliche Schulen gegründet werden, aus denen Familien sich dann eine aussuchen können, die ihrem eigenen Umfeld und den Bedürfnissen ihrer eigenen Kinder am besten gerecht wird.

Wenn ich gefragt werde: „Was bedeutet herkunftssprachliche Erziehung für dich?“, frage ich mich selbst: „Warum möchte ich die japanische Sprache an meine Kinder weitergeben?“, und die Antwort lautet: „Ich möchte meinen Kindern in meiner eigenen Sprache, Japanisch, sagen können, was mir als Mensch wichtig ist.“ Damit ist alles gesagt. Faktoren wie „Es ist besser für ihre Zukunft“, oder, „Wenn sie Japanisch können, finden sie später leichter einen Job“, sind sekundär.

Die Deutschfähigkeiten meiner Kinder werden irgendwann meine eigenen übersteigen. Von da an habe ich, um mit meinen Kindern gegenüberzutreten, mit ihnen zu sprechen oder ihnen Ratschläge zu geben, nur noch mein Japanisch zur Verfügung. Mit meinen Töchtern Erwachsenengespräche auf Japanisch führen zu können, ist für mich ein großes Glück.

Glauben Sie daran, dass der Tag, an dem das möglich sein wird, auch für Sie kommt! Geben Sie die herkunftssprachlichen Erziehung Ihrer Kinder nicht auf, sondern pflegen Sie sie mit Freude weiter!

 

Japanisches Institut Herkunftssprache und Kultur „Hidamari“

Kayoko Shimizu-Pieri

 

Bibliographie:

Watanabe, Hisahiro, Matsuda, Makiko  (2019) „ningen kyoiku toshite no pilar do sul  nihongogakko no jissen“, Waseda Nihongo Kyoiku (26), Seiten 27-42, Waseda Universität Graduiertenabteilung, Kurs: Pädagogik für Japanische Sprache

Aktuelle Essays