Leben mit der Fukugengo (Plurilingualität)

Leben mit der Fukugengo (Plurilingualität)

Ich bin Europäerin

REHBINDER Elena


Elena Rehbinder ist mit zwei Kulturen aufgewachsen, einer japanischen und einer deutschen, und lebt heute ein mehrsprachiges Leben, das die Grenzen zwischen den beiden Kulturen überwindet. In ihren eigenen Worten schreibt sie über ihre Gedanken als Kind und ihre Gedanken heute. (Klicken Sie hier, um es auf Japanisch zu lesen)

Deutsch und Japanisch

Ich bin als zweite Tochter einer fünfköpfigen Familie mit einer japanischen Mutter und einem deutschen Vater in der Nähe von Köln geboren und aufgewachsen. In Japan nennt man solche wie wir, die eine doppelte Nationalität haben „hāfu“ (engl. „half“). Einige bevorzugen die Bezeichnung „daburu“ (engl. „double“) oder „Nikkei“, da sie den  ersterem Begriff  eine negative Konnotation beimessen. Mir persönlich sind jedoch alle Bezeichnungen gleich recht.

In meiner Familie wurde in der Regel Deutsch mit meinem Vater und Japanisch mit meiner Mutter gesprochen. Auch wenn wir in Deutschland lebten, sprachen wir alle bis zum Kindergartenalter überwiegend Japanisch. Als wir aber anfingen den Kindergarten zu besuchen, sprachen wir bald fließend Deutsch und heute ist Deutsch eindeutig unsere dominante Sprache.

 

Kindheitserinnerungen

In meiner Kindheit machte ich mir nicht viel daraus, ob ich „hāfu“, „Japanerin“ oder „Deutsche“ war. Das ist womöglich dem Umstand zu verdanken, dass ich in einer sehr internationalen Umgebung aufgewachsen bin, in der es viele Kinder mit Migrationshintergrund gab. Nichtsdestotrotz erinnere ich mich, dass es immer wieder Momente gab, in denen ich gewisse Unterschiede zwischen meiner Familie und der Familie meiner Freunde bemerkte. Beispielsweise der Sprachgebrauch oder Essgewohnheiten. Solch unscheinbare Kleinigkeiten machten mir deutlich, wie sehr sich unser Lebensstil und unsere Kultur voneinander unterschieden.

Ein weiterer großer Unterschied war, dass ich einmal die Woche in die japanische Ergänzungsschule besuchte. Wenn ich ehrlich bin, möchte ich es nicht so sehr dorthin zu gehen. Bis zur ersten Grundschulklasse machte mir der Unterricht noch Spaß. Doch je weiter er fortschritt und je komplizierter der Inhalt wurde, desto mehr wurde ich vom Unterrichtstempo abgehängt und verlor irgendwann gänzlich die Lust am Lernen.

Da ich in meiner Schulzeit Musiker werden wollte und somit täglich nach der Schule mich hauptsächlich mit Musik beschäftigte, (und zugegeben leider auch lernfaul war) vernachlässigte ich dementsprechend meine Hausaufgaben für die Japanische Schule. In der Klasse war ich immer die Schlechteste in den Kanjitests und im Lautvorlesen. Irgendwann gab ich es auf, meinen Rückstand aufholen zu wollen und gab mir keine Mühe mehr.

Warum ich trotzdem ganze 15 Jahre Japanisch Schule durchgezogen habe? Es gab durchaus Dinge, die ich an ihr mochte: Die Koto-AG und Lieder-AG, der alljährliche Ausflug und das leckere Buffet zum Neujahrsfest waren immer ein Highlight. Vielmehr noch waren es aber meine Freunde, darunter besonders meine beste Freundin, die mich zum Weitermachen motivierten. Von den Schulleistungen her gesehen war sie das genaue Gegenteil von mir. Ihre Noten waren immer top, ihr Japanisch mindestens genauso gut wie das eines Muttersprachlers. Sie war die Musterschülerin unserer Schule. Dieser Unterschied spielte in unserer Freundschaft jedoch keine Rolle. Trotz aller Verschiedenheiten zwischen uns fühlten wir uns, nicht zuletzt wegen unseres ähnlichen japanisch-deutschen Backgrounds, einfach wohl, wenn wir zusammen waren. Wir waren unzertrennlich.

 

Der Qual der Studiumswahl

Sobald ich mein Abitur in der Tasche hatte und endlich von der Schulpflicht befreit war, spürte ich auf einmal – welch Ironie des Lebens – einen mir bisher völlig unbekannten Wissensdurst. Ich hatte Lust alles zu lernen, ja die Welt zu entdecken. Es waren auch einige Tage vergangen, seitdem ich die letzte Klasse der Japanischen Schule absolviert hatte, und ich wurde mir plötzlich dessen bewusst, wie sehr ich die japanische Sprache liebte. Ich verspürte den Drang, mehr über die japanische Kultur und ihre Gesellschaft zu lernen.

Eine Weile konzentrierte ich mich auf meine Geige und verbrachte die Tage damit, Geige zu üben und mich auf die Aufnahmeprüfung der Musikhochschule vorzubereiten. Allmählich kam ich jedoch an meine Grenzen und sah mich mit der harten Welt der Musik konfrontiert. Als ein Geigenprofessor mir schließlich von meinem Vorhaben abriet, Musik zu studieren, gab ich meinen langjährigen Traum auf. Jetzt hieß es, schleunigst ein neues Berufsziel finden. Nachdem ich mir einige Tage meinen Kopf zerbrochen hatte, entschied ich mich für die Sprachwissenschaft. Fremdsprachen hatte ich schon immer gemocht und hatte auch in der Schule recht gute Noten gehabt. Außerdem erinnerte ich mich daran, wie ich einmal als Dolmetscher gejobbt hatte, und wie Spaß es mir gemacht hatte. „Ja, warum nicht Übersetzerin werden?“. So eröffnete sich ein neues Kapitel und ich begann das Studium der Japanologie und der Französischen Philologie in Bochum.

 

Studium und Recherchen zur Japanischen Ergänzungsschule

Durch mein Studium erlernte ich also erneut die Japanische Sprache, allerdings diesmal als eine Fremdsprache. Diese neue Perspektive bescherte mir viele neue Erkenntnisse und änderte völlig meine Sicht auf die Sprache. Nach meinem Auslandsstudium in Japan und gegen Ende des Studiums begann ich mich weniger für die reine Linguistik und mehr für die Soziolinguistik zu interessieren.

Ausschlaggebend dafür war ein Einführungsseminar in Soziolinguistik während meines Auslandsaufenthalts. Darin weckte insbesondere das Kapitel über Zweisprachigkeit mein Interesse und ich begann, über die Probleme des Systems und der Unterrichtsmethoden der Japanischen Ergänzungsschule in Deutschland zu überlegen. Ich entschloss, meine Abschlussarbeit diesem Thema zu widmen.

Kurzgefasst liegt die Problematik der Japanischen Schulen darin, dass das Japanische Bildungssystem für japanische Kinder im Ausland nicht den Bedürfnissen der betroffenen Schüler angemessen sind. Das japanische Bildungsministerium sieht den „Landessprachunterricht“ (kokugo), so wie er in den Schulen in Japan durchgeführt wird, auch für den Unterricht in den Ergänzungsschulen vor. Dieses System wird seit den Anfängen der japanischen Ergänzungsschulen außerhalb von Japan angewandt und war für die Kinder von Japanern gedacht, die von ihren Arbeitgebern vorübergehend ins Ausland geschickt worden waren. Heutzutage besteht die Schülerschaft jedoch überwiegend aus Kindern, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Sie leben also eine ganz andere Realität als die Kinder in Japan. Ich sah daher einen Widerspruch darin, dass sie trotzdem denselben Sprachunterricht mit demselben Unterrichtsmaterial erhalten sollen, wie die Kinder in Japan.

Im Laufe meiner Recherchen fand ich heraus, dass vieles, was ich in meiner Zeit im Japanischunterricht erlebt und beobachtet hatte, bereits in vielen wissenschaftlichen Studien thematisiert worden war: Zum Beispiel das unverhältnismäßige Lernpensum in einer stark eingegrenzten Zeit. Außerdem der Umstand, dass die japanische Sprache im Alltag der Schüler hier in Deutschland viel seltener zur Anwendung kommt, in den meisten Fällen nur im eigenen Haus, in der Ergänzungsschule und vielleicht mit anderen japanischsprachigen Freunden. Dass von diesen Kindern dasselbe Sprachniveau vorausgesetzt wird, wie das der Kinder in Japan, schien mir eine realitätsferne Fehleinschätzung.

 

Der Unterricht an japanischen Ergänzungsschulen aus Sicht der Herkunftssprachenpädagogik

Vor etwa zwanzig Jahren erkannten Sprachpädagogen in Amerika und Kanada diese Problematik, worauf sie das neue Forschungsfeld des „Herkunftssprachenunterrichts“ (heritage language edugation) gründeten. Im Laufe der Jahre erkannten sie viele negativen Effekte des herkömmlichen Sprachunterrichts an den Ergänzungsschulen, darunter die Entwicklung von Sprachkomplexen seitens der Schüler, psychische Belastungen, bis hin zur kompletten Ablehnung der Herkunftssprache. Sie fanden auch, dass es zwei bedeutende Aspekte für den erfolgreichen Sprachunterricht missachtete: Erstens die Bedeutung der Herkunftssprache für die Identität der Herkunftssprecher. Zweitens die große Variabilität der Sprachfähigkeiten von Herkunftssprechern, weshalb der Unterricht auf die individuellen Bedürfnisse der Schüler angepasst werden muss.

Auch in Deutschland gibt es seit etwa fünfzehn Jahren Initiativen für die Umgestaltung des Japanischunterrichts an den Ergänzungsschulen. Seither wird versucht einen Unterricht zu entwickeln, der es den Kindern ermöglicht, ihre japanische Sprache mit Freude und ohne unnötigen Druck weiterzuentwickeln, um ihre multilinguale und -kulturelle Identität aufblühen zu lassen. Ich persönlich halte diese Entwicklung für sehr begrüßenswert und möchte sie auch gerne in Zukunft unterstützen.

 

Wie ich mich heute sehe

Ich bin viele Male in meinem Leben gefragt worden, welcher Nationalität ich mich zugehörig fühle. Heute sage ich mit Stolz, dass ich mich weder als Deutsche noch als Japanerin, sondern als Europäerin betrachte. Der Grund dafür ist, dass ich mich im europäisch geprägten Deutschland sehr wohl fühle, was meiner Meinung nach dem der Europapolitik zugrundeliegenden Prinzip der Vielfalt der Kulturen und des Respekts vor fremden Kulturen zu verdanken ist. Dies ist womöglich nicht überall in Europa der Fall, aber ich habe im Laufe meines Lebens zu schätzen gelernt, dass zumindest in NRW, wo ich aufgewachsen bin, Einwanderer aus aller Welt ein friedliches Leben führen können. Ich glaube, dass die meisten Menschen hier, ungeachtet der Nationalität oder äußeren Erscheinung einer Person, Deutsche sowie Menschen mit Migrationshintergrund respektvoll miteinander leben können. Ich bin dankbar dafür, dass ich in solch einer toleranten und offenen Gesellschaft großgeworden bin.

Ein weiterer Grund, warum ich mich nicht auf eine einzige Nationalität festlegen kann, ist, dass das „Deutschsein“ und das „Japanischsein“ nur ein Teil meiner Persönlichkeit ausmachen. Ich stelle mir meine Identität wie ein Mosaik vor, das aus vielen unterschiedlichen Teilen besteht: ein deutscher Teil, ein japanischer Teil, ein kleinerer französischer Teil, ich als Musikerin, als Mutter usw. … Solch eine vielseitige Identität ist keine besondere Eigenschaft von Herkunftssprachlern, sondern allen Menschen gleich. Bei Mehrsprachigen ist diese Vielfalt vielleicht ausgeprägter als bei anderen, weshalb ich glaube, dass sie nur ein besonders starkes Beispiel für die „Vielfalt in der Einheit“ sind, während heutzutage womöglich fast jeder Mensch von verschiedenen Kulturen beeinflusst ist.

 

Unsere Spracherziehung daheim

Im Jahr 2016 zog ich zu meinem langjährigen Freund in die Nähe von Paris und heiratete ihn im Jahr darauf. 2018 zogen wir nach Straßburg, wo unser Sohn auf die Welt kam. Zwei Jahre dauert es noch, bis ich endlich mein Studium abschloss. Mein Mann stammt aus einer russischen Familie, die vor drei Generationen nach Frankreich immigriert war und spricht von Kindheit an Russisch und Französisch. Unser Sohn wächst also mit vier Sprachen auf, wobei wir mit ihm überwiegend auf Deutsch und Französisch sprechen. Nichtsdestotrotz versuchen wir ihn auch täglich mit den anderen zwei Sprachen in Berührung kommen zu lassen, indem wir ihm vorlesen und Lieder singen oder die Großeltern bitten mit ihm in ihren Sprachen zu sprechen. Schließlich sind alle vier Sprachen Teil unseres Lebens und unserer Identität.

Wir hatten auch Bedenken, dass so viele Sprachen unser Kind belasten könnten. Jedoch bin ich zuversichtlich, dass es gestärkt aus dieser Vielfalt von Sprachen und Kulturen hervorgehen kann, solange wir es mit viel Liebe, Aufmerksamkeit und Verständnis auf seinem Lebensweg begleiten.

 

Geboren 1993 als Tochter einer japanischen Mutter und eines deutschen Vaters 1993 bei Köln, hat Elena an der Ruhr-Universität in Bochum Japanologie und französische Philologie studiert. Die klassische Musik ist ihre große Leidenschaft. Heute lebt sie mit ihrem russisch-französischen Ehemann und ihrem dreijährigen Sohn in Straßburg.

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